Sahra Wagenknecht "Für viele steht das Label ‚links' für Verachtung des Normalbürgers"

Von Luisa Hofmeier
Redakteurin Innenpolitik

Stand: 09.09.2021 01:23 Uhr | Lesedauer: 6 Minuten

Autoritäre Ansichten attestiert Wagenknecht (Linke) den Grünen - und sieht die Gefahr, dass diese nur Politik für urbane Besserverdiener machten. Auch rechnet sie mit "missionarischem Eifer" in linken Milieus ab. Für Scholz' Erfolg hat sie eine wenig schmeichelhafte Erklärung. Für Sahra Wagenknecht (Linke) ist es eine Frage der Freiheit, sich für oder gegen die Corona-Impfung zu entscheiden
Quelle: Marlene Gawrisch / WELT

WELT: Frau Wagenknecht, was verstehen Sie unter Freiheit?

Sahra Wagenknecht: Freiheit ist, wenn jeder selbst bestimmen kann, wie er sein Leben gestaltet - ohne Bevormundung und Gängelei. Freiheit bedeutet aber auch: Es gibt gleiche Chancen für jeden, und die eigene Anstrengung entscheidet darüber, wie viel Wohlstand jemand hat.

WELT: Diese Antwort könnte auch von FDP-Chef Christian Lindner stammen.

Wagenknecht: Mit dem entscheidenden Unterschied, dass ich im Gegensatz zur FDP nicht glaube, dass der Markt allein die Voraussetzungen dafür schafft. In Deutschland entscheidet heute weit eher die Herkunft über Lebenschancen als die individuelle Anstrengung.

Interessant ist, dass gerade von den Grünen und ihrem Milieu mittlerweile Ansichten vertreten werden, die in erschreckender Weise autoritär und illiberal sind. Nicht zuletzt in der Corona-Politik wird das deutlich.

Ich warte auf einen verlässlichen klassischen Impfstoff
Quelle: Marlene Gawrisch / WELT

WELT: Die Corona-Politik der Grünen hat sich nicht signifikant von der Strategie der Bundesregierung unterschieden.

Wagenknecht: Sie haben Merkel unterstützt, aber regelmäßig noch mehr Einschränkungen gefordert. Auch jetzt sind die Grünen ganz vorn dabei, Ungeimpfte aus dem gesellschaftlichen Leben zu verbannen. Es ist doch auch eine Frage der Freiheit, sich in persönlicher Risikoabwägung für oder gegen eine Impfung mit einem völlig neuartigen Impfstoff entscheiden zu können.

WELT: Sie selbst sind nicht geimpft. Beschäftigt Sie die Debatte um Ungeimpfte deswegen besonders?

Wagenknecht: Ich warte auf einen verlässlichen klassischen Impfstoff. Es geht mir aber nicht um mich. Ich kann mir zur Not auch kostenpflichtige Tests leisten. Aber Studenten schreiben mir zum Beispiel, dass sie nicht wissen, wie sie ab Oktober ihr Studium weiterführen sollen, weil ihre Uni von Ungeimpften zweimal wöchentlich Tests verlangt.

Dabei sind 3G- und erst recht 2G-Regeln ohne Sinn und Verstand. Denn inzwischen ist nachgewiesen, dass auch Geimpfte sich infizieren können und dann genauso ansteckend sind wie Ungeimpfte. Aber ähnlich laufen auch andere Debatten: Wer nicht denkt wie ein bestimmtes Milieu, wird nicht als Andersdenkender respektiert, sondern als schlechter Mensch abgestempelt.

"Die Polarisierung hat sich weiter verschärft"
Quelle: Marlene Gawrisch / WELT

WELT: In Ihrem Buch "Die Selbstgerechten" bezeichnen Sie dieses Milieu als "Lifestyle-Linke". Wie hat sich die Debatte entwickelt?

Wagenknecht: Die Polarisierung hat sich weiter verschärft. Auch der missionarische Eifer einiger, anderen vorzuschreiben, wie sie zu leben, zu denken und zu reden haben, ist nicht geringer geworden. Die Linke macht einen vernünftigen Wahlkampf, bei dem soziale Themen im Mittelpunkt stehen.

Für viele Menschen aber steht das Label "links" heute leider trotzdem eher für abgehobene Debatten unter Privilegierten und die Verachtung des Normalbürgers als für bessere Löhne und höhere Renten. Das ist ein echtes Problem. Auch der Aufstieg von Olaf Scholz hat wenig damit zu tun, dass die Leute von ihm echte soziale Verbesserungen erwarten. Das tun die wenigsten.

WELT: Womit würden Sie das Hoch erklären?

Wagenknecht: Einen 100-Meter-Lauf mit zwei Mitbewerbern, die vor dem Ziel kollabieren, kann auch ein Fußlahmer gewinnen. Er sollte sich deshalb aber nicht für einen Olympioniken halten.

"Scholz möchte sein wie Angela Merkel"
Quelle: Marlene Gawrisch / WELT

WELT: Sie stellen in Ihrem Buch den Begriff "linkskonservativ" heraus. Schafft es Olaf Scholz womöglich, in seiner Merkel-Imitation genau das zu verkörpern: starker Sozialstaat in Verbindung mit Bewahrendem?

Wagenknecht: Scholz möchte sein wie Angela Merkel, das hat mit einem ehrlichen Linkskonservatismus nichts zu tun. Merkel ist mitverantwortlich für einen großen Niedriglohnsektor und wachsende Altersarmut.

Das zentrale Versprechen der sozialen Marktwirtschaft - wer sich anstrengt, wird auch zu Wohlstand kommen - wird seit Jahren nicht mehr eingelöst. Die Voraussetzungen dafür zu schaffen, ist für mich Kern von Linkskonservatismus. Dafür stehen weder Merkel noch Scholz.

WELT: Es bleibt aus Ihrer Sicht also eine Leerstelle. Warum profitiert die Linke nicht davon?

Wagenknecht: Unser Image hat sich in den letzten Jahren verändert, es ist schwer, das kurzfristig wieder zu korrigieren. Oft waren wir sehr vielstimmig, da fragen sich die Leute, welche Position sie am Ende wählen.

Aber ich hoffe, dass wir in der verbleibenden Zeit noch möglichst viele überzeugen, dass es nur mit einer stärkeren Linken eine Chance auf mehr sozialen Ausgleich gibt.

"Oft waren wir sehr vielstimmig, da fragen sich die Leute, welche Position sie am Ende wählen"
Quelle: Marlene Gawrisch / WELT

WELT: Sie haben eben im Zusammenhang mit den Grünen von "erschreckend" gesprochen. Besorgt Sie der Gedanke, dass die Partei sehr gute Chancen hat, in der nächsten Regierung zu sitzen?

Wagenknecht: Im grünen Wahlprogramm gibt es Punkte, deren Umsetzung ich mir wünsche: höherer Mindestlohn, Besteuerung von sehr großen Vermögen, Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs. Aber die Gefahr ist real, dass die Grünen am Ende nur Politik für großstädtische Besserverdiener machen und dass es für den Rest der Gesellschaft verdammt teuer wird.

WELT: Die Linke macht in diesen Tagen klar, dass sie regieren will. Die Nato-Frage ist ein Hindernis. Wäre es denkbar, dass Sie die Nato-Zugehörigkeit Deutschlands in der kommenden Legislaturperiode unterstützen - unter der Bedingung, dass das Zwei-Prozent-Ziel nicht eingehalten wird und keine Waffen an die Türkei exportiert werden?

Wagenknecht: Wir brauchen ein Verteidigungsbündnis, das das Völkerrecht achtet und auf Abrüstung und Entspannung orientiert - all das tut die Nato derzeit leider nicht. Aber genauso wichtig ist die Frage, ob SPD und Grüne eine Politik unterstützen, die endlich einmal wieder die Interessen von Familien mit kleinen und mittleren Einkommen ins Zentrum stellt.

Die letzte rot-grüne Regierung war gerade für diese Menschen eine Katastrophe. Mein Gefühl ist, dass Rot-Rot-Grün für Scholz nur ein Druckmittel ist, um die FDP in die Ampel zu kriegen.

WELT: Sie glauben also nicht, dass es zu Rot-Grün-Rot kommt - selbst bei rechnerischer Mehrheit?

Wagenknecht: Das hängt auch davon ab, wie unser Ergebnis ausfällt. Aber, ja, meine Hoffnungen sind nicht überschwänglich.

WELT-Redakteurin Luisa Hofmeier im Interview mit Sahra Wagenknecht
Quelle: Marlene Gawrisch / WELT

WELT: Verstehen Sie Menschen, die die Aussicht auf ein linkes Bündnis beunruhigt?

Wagenknecht: Ja. Das hat ja etwas mit der Bedeutungsverschiebung des Labels "links" zu tun. Die Menschen haben keine Angst vor höheren Löhnen und mehr sozialer Sicherheit, im Gegenteil. Aber viele haben Sorge, dass ein heute schon sehr meinungsstarkes Milieu dann noch offensiver seine Lebensweise und Kultur zum gesellschaftlichen Maßstab macht.

Sprachregeln, Quoten für alles und jedes, Industriefeindlichkeit oder auch eine immer stärkere Machtverschiebung nach Brüssel sind nichts, was der Normalbürger sich wünscht.

WELT: Laschet, Scholz oder Baerbock - wer ist im Kanzleramt das geringste Übel?

Wagenknecht: Frau Baerbock ist zum Glück raus. Laschet und Scholz unterscheiden sich kaum. Allenfalls gibt es mit Scholz eine kleine Chance auf soziale Korrekturen…

WELT: Also Scholz.

Wagenknecht: Das Problem von Scholz und der SPD ist, dass sie schon oft nach Wahlen das Gegenteil dessen gemacht haben, was sie dem Wähler vorher versprochen hatten.


Quelle: welt.de vom 09.09.2021